Psychisches Erleben wurde, gerade in der Psychiatrie, über Jahrzehnte hinweg ausschließlich als eine Folge von pathologischem Hirnstoffwechsel betrachtet – heute leider auch noch (daher werden leider viele Medikamente verschrieben, die in diesen Kreislauf eingreifen). Erst in den letzten Jahren wurde deutlich, dass auch zwischenmenschliche Beziehungen und Erfahrungen nicht nur die Biologie des Gehirns, sondern auch die Biologie des übrigen Körpers verändern können. Abhängig von unseren Lebenserfahrungen, und auch von unseren zwischenmenschlichen Erfahrungen, unterliegen neuronale Verschaltungsmuster unseres Gehirns einem fortlaufenden Umbau.
Trotz einer großen Fülle neurobiologischen Wissens blieb die entscheidende Frage unbeantwortet: Wie ist es – neurobiologisch gesehen -möglich, dass das, was Menschen fühlen, von anderen Menschen schnell und spontan erfasst werden kann? Wodurch stellt sich ein intuitives Wissen darüber ein, was andere Menschen um uns herum fühlen? Warum können wir erspüren, dass er guter Stimmung ist oder dass er Angst hat oder dass er hoffnungslos verliebt ist? Warum nehmen wir die „inneren Zustände“ anderer Personen intuitiv wahr, auch ohne dass der Andere uns darüber mündlich Auskunft gegeben oder Fragebögen ausgefüllt hat. Manchmal sind wir sogar intuitiv richtig informiert, obwohl der- oder diejenige etwas anderes behauptet: Jemand sagt uns z. B., er/sie sei mit etwas einverstanden, wir aber spüren unbewusst, dass das nicht stimmt. Warum brauchen wir keine neurobiologische Studie, um uns als Menschen gegenseitig zu verstehen? Die Neurobiologie von intuitivem, unbewusstem Verstehen und Empathie (sich in jemanden hinein fühlen), diese große Frage der Hirnforschung, scheint vor ihrer Aufklärung zu stehen. Grund ist die Entdeckung der so genannten Spiegelnervenzellen oder Spiegelneurone. Spiegelneurone wurden in allen Zentren des Gehirns gefunden, in denen Erleben und Verhalten gesteuert wird. Entdeckt wurden sie Mitte der 80er Jahre dort, wo zielgerichtete Handlungen geplant und gesteuert werden. Nervenzell-Netzwerke, die Handlungen planen und steuern, wurden von einer Arbeitsgruppe an der Universität Parma in Italien unter Leitung von Giacomo Rizzolatti entdeckt.
Die Forscher beschäftigten sich mit einem Affen mit Nervenzellen der motorischen Hirnrinde, welche für zielgerichtete Handlungen des Tieres stehen. Eine der Nervenzellen, welche die Wissenschaftler mit Messfühlern verbunden hatten, „feuerte“ dann – und sie reagierte nur in diesem Moment! -, wenn der Affe mit der Hand nach einer Nuss griff. Rizzolatti entdeckte Folgendes: Er beobachtete eine handlungssteuernde Nervenzelle, die nicht nur dann aktiv war, wenn das Tier selbst nach der Nuss griff, sondern auch dann, wenn der Affe zusah, wie ein anderer nach der Nuss griff. Die Wissenschaftler hatten also Nervenzellen entdeckt, die nicht nur feuerten wenn eine bestimmte, selbst ausgeführte Handlung gesteuert wurde, sondern die auch dann Aktivität zeigte, wenn die gleiche Handlung nur beobachtet wurde. Was ein anderer tut, dem ich bei seinen Handlungen zusehe, führt also in mir, der das beobachtet, zu einer inneren Mitreaktion, so als würde ich die Handlung unbewusst selbst ausführen. Spiegelneurone lassen sich nicht nur beim Affen, sondern auch beim Menschen nachweisen. Wenn Menschen beobachten, wenn jemand anderes Handlungen ausführt, kommt es im Beobachter zu einer stillen Mit-Reaktion motorischer Nervenzellen, und zwar genau jener Nerven, die in der Lage sind, die beobachteten Aktivitäten selbst zu veranlassen. Die Spiegelneurone versorgen uns durch das „Mitreagieren“ mit einem inneren Wissen über die Bedeutung der Handlung, die wir beobachten. Dieses innere intuitive Wissen stellt sich von alleine in uns ein. Spiegelneurone werden von alleine aktiv.
Die Spiegelneurone lassen uns aber nicht nur Teilabschnitte einer Handlung verstehen, sondern auch, wenn wir nur den Anfang einer Aktion sehen, erahnen wir, was im nächsten Moment kommen wird. Die motorischen Nervenzellen, die den Plan einer bestimmten Handlung berechnen, berechnen gleich die voraussichtliche Gesamthandlung. Da der gesamte Plan für den Ablauf einer Handlung gespeichert wird, vermitteln die Spiegelzellen dem Beobachter einen vorausschauenden Eindruck davon, was das Ergebnis einer beobachteten Situation sein wird. Spiegelzellen vermitteln uns das, dass wir das Handeln eines anderen Menschen – intuitiv und ohne langes Nachdenken – erfassen und verstehen. Spiegelzellen ermöglichen intuitives Erfassen nicht nur dann, wenn es um Handlungen geht, sondern auch dort, wo Wahrnehmungen des eigenen Körpers verarbeitet werden. Das heißt: Körperliches Empfinden eines anderen Menschen, den wir in direkter Umgebung beobachten, können in uns spiegelbildliche Empfindungen wachrufen. Wenn wir beobachten, wie ein anderer Schmerzen an seinem Körper erlebt, erleben wir am eigenen Körper den gleichen Schmerz.
Wir haben die Tendenz, gesehenes Verhalten zu imitieren, was auch im Erwachsenenalter erhalten bleibt, wenn auch in weniger auffälliger Art und Weise. Auch wir Erwachsenen zeigen eine unbewusste Neigung, Gesichtszüge, Stimmungen und Körperhaltungen unseres Gegenübers zu imitieren. Spiegelneurone sind u. a. dafür verantwortlich, dass wir Aufgaben um so besser ausführen können, je häufiger wir sie beobachten können. Spiegelneurone sind nachweislich die neurobiologische Basis für das Lernen am Modell. Die bei Geburt vorhandene genetische Grundausstattung an Spiegelneuronen hat nicht zur Folge, dass die Fähigkeit, andere Menschen zu verstehen, angeboren ist. Neuronale Schaltkreise müssen benützt werden, um in Funktion und intakt bleiben zu können. Es gibt einen Satz in der Neurobiologie der da lautet: „use it or lose it“. Durch das Erleben von liebevoller Anteilnahme und Zuwendung, werden Spiegel-Nervenzellen des Säuglings in Aktion versetzt. Der Säugling braucht, um seine Spiegelsysteme entwickeln zu können, in den ersten beiden Lebensjahren eine individuelle, ganz auf ihn persönlich abgestimmte Zuwendung. Was nur durch – in der Regel die Eltern – geleistet wird als konstante Bezugspersonen, können Krippen und Kindertagesstätten in dieser frühen Phase nicht ersetzen. Die von seinen Bezugspersonen zurück gespiegelten Resonanzen, die das Kind erlebt, sind das „Trainingsprogramm“ für die kindlichen Spiegelneurone. Diese Art von Erfahrungen haben einen entscheidenden Einfluss darauf, wie das Kind seine eigene Empathiefähigkeit entwickelt. In der Summe des Austauschs mit den Bezugspersonen wird auch ein Beitrag zur Selbst- und Identitätsbildung des Kindes geleistet. Von anderen etwas zurückgespiegelt zu bekommen, beinhaltet eine Botschaft darüber, wer ich selbst bin“.
Ein zentrales Thema in der Psychotherapie ist die Fähigkeit fühlen zu können, was andere Menschen bewegt, was sie beschäftigt, bedrückt oder was sie sich insgeheim wünschen. Therapieren kann man eigentlich nicht – man kann andere Menschen nicht verändern, die richtige Behandlung bzw. Beratung ermöglicht die Veränderung im Klienten selbst – seine individuelle Lösung zu finden. Beim Einfühlungsvermögen des Menschen, kann das Problem sowohl in einer zu geringen als auch in einer zu großen emotionalen Spiegelungsfähigkeit liegen. Menschen mit einem Defizit bei intuitiver Wahrnehmung berichten, dass sie sich anderen gegenüber fremd fühlen, und dass sie schlecht emotionalen Kontakt zu anderen Menschen herstellen können. Solche Menschen tun sich auch im Verhältnis zur eigenen Gefühlslage schwer. Andere leiden an einem „Zuviel“ an Einfühlung: Sie berichten, dass sie sich in Beziehungen wiederfinden, in denen Empathie (sich einfühlen) nur von ihnen, nicht aber vom Partner ausgeht. In solchen Beziehungen ist die Fähigkeit, die Bedürfnisse und Gefühle des jeweils anderen Partners zu verstehen und sich darauf einzustimmen offenbar schlecht ausbalanciert: Einer der Partner ist in der gefühlsmäßigen Geberposition, ohne selbst etwas für sich zu empfangen. So ein Ungleichgewicht kann Menschen krank machen.
Diese Frage einer angemessenen und gut balancierten emotionalen Resonanzfähigkeit stellt sich jedoch nicht nur bei Paaren. Psychotherapeutinnen und -therapeuten, also Berater, können den Klienten nur dann wirklich helfen, wenn sie über eine eigene, gute intuitive Wahrnehmung verfügen. Mit Hilfe dieser Resonanzfähigkeit kann man die innere Situation der KlientIn „lesen“. Um seinen Klienten zu verstehen, muss der Berater die innere Resonanz wahrnehmen, die er, der Klient, in ihm auslöst. Psychotherapeuten nennen diese intuitive Wahrnehmung „Gegen-Übertragung“. In der medizinischen Hypnose wird diese Wahrnehmung interpersonelle Trance genannt.
Diese innere Resonanz lässt den Berater spüren, was den Klienten bewegt, welche Ängste, Wünsche oder sonstigen Gefühle von ihm Besitz ergriffen haben. Die im Berater ausgelöste Spiegelung sollte allerdings weit über ein rationales Verstehen hinaus gehen: Der Berater spürt auch ein Stück von dem, was dem Klient selbst noch nicht möglich ist zu fühlen, z. B. weil Ängste, Verbote, Glaubenssätze oder traumatische Erfahrungen das unmöglich gemacht haben. Auch hier haben die Spiegelneurone, -systeme eine entscheidende Aufgabe. Beim Berater kommt es also auf ein „ergänzendes“ Einfühlungsvermögen (aus eigenen Erfahrungen) an, welches in ihm eine Ahnung davon erzeugt, wohin sich der Klient gerne entwickeln möchte und kann. Nur so kann eine Entwicklung gefördert werden, an deren Ende der Klient ganz der werden kann, der er eigentlich ist. Wenn das Gefühlsleben des Beraters allerdings eingeengt, oder durch eigene Ängste und blinde Flecke beeinträchtigt ist, dann kann er dem Patienten keinen intuitiven Resonanzboden bieten. Ein guter Berater sollte also mit seinen eigenen Gefühlen im Reinen sein und ein gut entwickeltes Gefühlsleben haben. Immer mehr Therapeuten vernachlässigen diesen Teil ihrer Ausbildung, der da Selbsterfahrung heißt. Wobei anzumerken ist, dass wirklich selbst erlebte, belastende Situationen und Symptome deren Bewältigung, und ein dem entsprechendes Verstehen des Klienten und der damit zusammen hängenden Resonanzmöglichkeiten, den besten Resonanzboden und Hilfe bietet – in der hypnotherapeutischen Sitzung tauschen sich die beiden unbewussten Anteile aus bzw. haben Zugriff auf das jeweils andere. Man kann sich das gut vorstellen, wenn der Therapeut nicht imstande ist z. B. traumatisches Material zu verarbeiten und Ängste entwickelt. Es ist auch bedauerlich dass in vielen Teilen der Medizin, wie auch in der Psychiatrie, so praktiziert wird, dass darauf verzichtet wird, zum Patienten eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen und darauf verzichtet wird, die Krankheit bzw. Symptome des Patienten vor dem Hintergrund seiner Biographie und Situation zu verstehen. Statt dessen werden Menschen in Kategorien eingeteilt und in Schubladen gesteckt (Stichwort DSM, ICD) und medizinische Hilfe bedeutet weiterhin apparative und medikamentöse Maßnahmen.
Noch was. Ich hoffe, dass meine Ausführungen deutlich gemacht haben, dass durch Spiegelneurone vermittelte Prozesse in vielen Bereichen ein Rolle spielen. Vieles ist noch mit den Spiegelsystemen verbunden. Man kann sich auch gut vorstellen, wie diese Systeme durch Erziehung und Erfahrungen in ihrer Wahrnehmung eingeengt werden können. Auch in der Pädagogik spielen Spiegelzellen eine wichtige Rolle. Hier sind sie besonders bei Kindern in der Schule bedeutsam. Was Kinder in Medien sehen, hat teilweise weitreichende Folgen. Kinder, die einen hohen Medienkonsum haben, in denen Gewalt zur Darstellung kommt (also von den Eltern geparkt werden) haben Lernschwierigkeiten und entwickeln Verhaltensauffälligkeiten.
Übrigens, ist ihnen schon einmal aufgefallen, dass sich Menschen, die sich mögen, die gleiche Körperhaltung einnehmen? Testen sie es aus – auch gut zu beobachten beim Flirten.
Ihr Dieter Orth