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Die gelungene Kind-Erwachsenen-Beziehung ist die psychologische Gebärmutter, in der echte Reifung stattfinden kann, sagt der Psychologe Gordon Neufeld.

Eltern haben heute keine Selbstsicherheit mehr, sagt der kanadische Entwicklungspsychologe Gordon Neufeld. Traut Euch, wieder autoritär zu sein, rät er ihnen – aber vergesst nie die Liebe zum Kind.

Ihr Buch “Unsere Kinder brauchen uns!” ist ein Bestseller, und Ihre These von der entscheidenden Kind-Eltern-Bindung wird derzeit wieder heiß diskutiert. Wieso?

Gordon Neufeld: Eltern heutzutage haben keine Selbstsicherheit mehr und keinen Zugang zu ihrer Intuition. Stattdessen gibt es unendlich viele Ratgeber und die Illusion, dass man anhand eines guten Leitfadens lernt, als Eltern das Richtige zu tun. Dabei lautet die wichtige Frage nicht: “Wie als Eltern handeln?”, sondern: “Wie Eltern sein?” Es geht um die Qualität der Beziehung zwischen Kind und Eltern; Erziehungsaxiome und Pädagogikreligionen haben damit gar nichts zu tun. Stoffwindel oder Pampers? Familienbett oder eigenes Zimmer? Solche Fragen spielen gar keine Rolle. Gern würde ich Verschüttgegangenes freilegen und den Eltern ihre Elternschaft zurückgeben – und ganz offensichtlich gibt es eine große Sehnsucht danach.
Gordon Neufeld, 1947 in Vancouver geboren, Vater von 5 Kindern.

Das klingt ein wenig nach Natur-Metaphysik. Wieso ging die “intuitive Bindung” verloren?

Neufeld: Eine große Rolle spielte die industrielle Revolution. Sie zwang viele Eltern aus ihrem Netzwerk heraus in die Städte. Sie waren mit der Last der Kindererziehung alleingelassen – und allmählich rückten so die Schulen in den Fokus. Die Eltern mussten arbeiten und die Schulen den Nachwuchs für die Gesellschaft und den Markt fit machen. Jetzt, in der postindustrialisierten Gesellschaft, definiert die Rolle die Beziehung zum Kind. Therapeut, Coach, Lehrer, Tagesmutter, Elternteil: Für all das gibt es Rollenerwartungen und festgelegte Verhaltensmuster. Man verlor aus den Augen, dass die Rolle früher durch die Bindung des Kindes gestützt war – ja, sich überhaupt erst aus der Bindung ergab. Und ist die “Kultur der Beziehung” erst einmal bachab gegangen, dann sind die Rollen von den Bindungen, auf denen sie doch fußen, komplett separiert. So wandelte sich die Idee der Elternschaft, der “parenthood”, in ein Konzept des “parenting”, des elterlichen Handelns. Aus einem Sein wurde ein Tun.

Was ist so falsch am “parenting”?

Neufeld: Ich sage – und neue Forschung belegt das –, dass beim Aufziehen von Kindern ihre Beziehung zu den Erwachsenen, die für sie verantwortlich sind, der alles entscheidende Faktor ist. Die Bindung erst öffnet die Kinder dafür, umsorgt und unterrichtet zu werden – und sie drückt dem Erwachsenen einen wirkmächtigen Hebel in die Hand. Die gelungene Kind-Erwachsenen-Beziehung ist die psychologische Gebärmutter, in der echte Reifung stattfinden kann. Ein Problem der Urbanisierung ist, dass man die Rhythmen des natürlichen Wachstums zugunsten eines linearen Denkens vernachlässigt hat: Das “Lernparadigma” hat alles überlagert. Kinder sollen dauernd zum Lernen und Selbstständigwerden angetrieben werden. Dabei zeigen entwicklungspsychologische Studien, dass die kindliche Abhängigkeit und Bedürftigkeit eine essenzielle Phase ist, auf die man eingehen muss, statt sie wegzutrainieren. Nur wer sich fallen lassen durfte, kann später selbstständig und selbstbewusst vorwärtsgehen.

Lassen die Kinder sich fallen, muss eine starke Hand sie auffangen. So titelt das neue Buch über “liebevolle Führung” von Therapeut Jesper Juul –”Leitwölfe sein”. Und der Psychiater Michael Winterhoff fordert in “Lasst Kinder wieder Kinder sein!” die “Rückkehr zur Intuition”. Warum ruft alles nach Autorität und nach mehr Bauchgefühl?

Neufeld: Gerade in unserer westlichen Kultur mit ihren Werten Demokratie, Unabhängigkeit und Gleichheit haben leider viele Mühe mit der hierarchischen Natur von Bindungen. Doch bei allen Säugetieren, wo die Kleinen nur durch die Fürsorge der Mutter überleben, hat die Bindung hierarchischen Charakter: Das erleichtert die Aufzucht, sichert das Überleben.

Aber wir Menschen haben gelernt, uns über Instinkte und simple Hierarchiemuster hinwegzusetzen.

Neufeld: Aber auch Menscheneltern müssen die Alpharolle annehmen. Seid das Brot für den Beziehungshunger Eurer Kinder! Denn Kinder in der verkehrten Rolle, Alphakinder, sind im permanenten emotionalen Alarmzustand und unsicher. Leider haben wir in der heutigen Zeit eine Epidemie von Alphakindern: Sie wirken stark und unabhängig und sind dabei verzweifelt. Sie bräuchten das Gefühl, umsorgt und geliebt zu sein. Autonomie und Unabhängigkeit sind nämlich das Ergebnis von sicheren, erfüllenden Bindungen und nicht von “Beziehungsarbeit” oder “Autonomieübungen”. Wir sollten der gesunde Beziehungsboden sein, aus dem die Kinder dann von allein, in ihrem Rhythmus, wachsen und Neugier auf die Welt entwickeln. Im Alarmzustand können kein Mut und keine Neugier reifen.

Und die Bindung an Freunde, an Gleichaltrige, braucht es sie nicht?

Neufeld: Die Behavioristen dachten eine Weile, Kinder würden egalitäre Werte lernen, wenn sie vor allem mit anderen Kindern zusammen wären. Weit gefehlt! Das führt sogar zu mehr Mobbing, wie man gesehen hat: Den anderen als gleichwertig zu behandeln, ist die Frucht einer gesunden Bindungsentwicklung, die nicht übersprungen werden kann. Freundschaft ja, Beziehungen zu anderen Menschen, Tieren, Orten ja – das ist zu fördern. Aber die Bindung an die sorgeberechtigte Person darf dabei nie untergraben oder gar usurpiert werden. Die heutige “peer orientation” – die Gleichaltrigenorientierung – finde ich alarmierend. Sie ist inzwischen fast der Normalfall und hat schlimme Konsequenzen fürs emotionale Wohlbefinden der Kinder – die später unsichere, aggressive Erwachsene werden.

Heißt das, dass Sie externe Kinderbetreuung ablehnen? Oder gar das Schulsystem? Muss die Mutter heim an den Herd?

Neufeld: Keinesfalls. Die Fremdbetreuung darf allerdings nicht die Bindung zu den Eltern stören. An vielen Institutionen ist man sich der Relevanz dieser Bindung noch nicht recht bewusst. All die Fragen nach der Qualität einer Schule – nach der Größe der Räume, nach den Curricula – sind nicht halb so wichtig wie der Erhalt der Bindung an die Person, die für das Kind sorgt. Zugegeben: Es ist eine Herausforderung, den Kindern zu Bindungen zu Lehrern und Klassenkameraden zu verhelfen, die nicht zugleich mit der Bindung zu den Eltern wetteifern. Doch als Grundsatz gilt: Kinder müssen im Kontext ihrer wichtigsten Bezugspersonen aufwachsen, um ihr volles Potenzial zu entfalten. Darum sind die Großeltern meist die beste Betreuungslösung.

Und wenn sie älter sind?

Neufeld: Homeschooling erleichtert die Sache schon sehr. Das Kind erlebt so auch keine Trennungsängste und Frustrationen, die Langzeitfolgen haben können. Früher dachte man, Homeschooling produziere Misfits und akademische Minderleister. Heute weiß man auch an den Universitäten: Das Gegenteil ist der Fall! Da, wo ich herkomme, gibt es darüber auch gar keine große Kontroverse, und man kann locker beide Systeme einsetzen. Das habe ich bei meinen eigenen Enkeln erlebt – es funktioniert.

Wie sehen Sie die Elternkultur in Westeuropa?

Neufeld: Mir scheinen die Kinder in Deutschland und der Schweiz nicht so peerorientiert zu sein wie in den USA. Ich würde empfehlen, den Amerikanern darin nicht zu folgen. Nein, haltet an euren Kindern fest, nehmt den angemessenen Platz in ihrem Leben ein! Eltern bleiben die beste Antwort auf den Beziehungsbedarf der Kinder.

Sind zu enge Beziehungen nicht gefährlich? Essstörungen etwa werden oft auch mit intensiven Mutterbindungen erklärt.

Neufeld: Essen und Beziehung – das gehört bei Säugetieren zusammen. Aber in den Hunderten von Fällen, die ich über die Jahrzehnte begleitet habe, war die Essstörung nie durch eine zu enge Mutterbindung verursacht. Ich beobachtete eher, dass das Kind die Alpharolle innehatte, statt sich das Essen vorsetzen und sich nähren zu lassen. Eine neue kanadische Studie hat übrigens justament erwiesen, dass eine freie Essenswahl von Kindesbeinen an am Ende mehr Essstörungen auslöst.

Auch bei jugendlichen Straftätern ist die Bindungstherapie ein, wenn nicht der erfolgreichste Ansatz.

Neufeld: Am wichtigsten ist es, den verstörten Jugendlichen wieder an einen liebevollen, umsorgenden Erwachsenen zu binden. Ein ganzer Strauss an negativen Gefühlen wird dadurch reduziert, Aggression wird heruntergefahren und Heilung möglich. Freilich kann man eine solche Beziehung nicht ruckzuck herstellen.

Kann man eine kaputte Bindung wieder aufbauen?

Neufeld: Die gute Nachricht ist: Es ist nie zu spät, es zumindest zu versuchen. Das Kind muss sich eingeladen fühlen, in unserer Gegenwart zu sein – durch die Wärme in unserer Stimme, durch das Aufleuchten unserer Augen, unsere spürbare Freude an ihm. Die Freude über es ist einfach da, immer und bedingungslos. Wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen, das kindliche Bedürfnis stets zu erfüllen, geliebt, verstanden und gewollt zu werden, zugehörig zu sein und erste Priorität zu haben. Das ist eher eine Haltung als ein Set von Verhaltensweisen. Man muss nicht – von besonderen Umständen abgesehen – die Welt verändern, um ein Kind zu bewahren. Sondern wir bewahren es, indem wir an ihm festhalten. Indem wir sein Herz haben.

Müssen das unbedingt die leiblichen Eltern sein?

Neufeld: Nein. Auch die aktuelle Resilienzforschung beweist: Es ist die starke, emotionale Bindung an irgendeinen Erwachsenen, die das Kind schützt und es auch durch traumatische Erfahrungen trägt. Eine einzige nährende Beziehung reicht. Aber: Wir Eltern sind in dieser Hinsicht die beste Chance für unsere Kinder! Wir müssen gar nicht wissen, wie das geht. Wenn wir unsere Rolle als liebende Eltern annehmen, entfaltet sich der Rest ganz von selbst.

Dieser Text erschien zunächst im Schweizer “Tages-Anzeiger”