Formen der Depression
Depressionen werden aus Sicht der klinischen Psychologie und der Psychiatrie nach ihren Symptomen und ihrer Schwere unterschieden und in verschiedenen Krankheitsbildern klassifiziert.
Reaktive Depressionen
Auslöser
Bei den sog. reaktiven Depressionen geht man davon aus, dass die Symptome einer Depression durch einen äußeren Anlass ausgelöst werden. Als depressive Reaktionen werden psychische Zustandsbilder bezeichnet, die in der Regel nicht länger als einen Monat andauern und sich dann allmählich bessern. Die Auslöser für depressive Reaktionen können sehr vielfältig sein:
– Enttäuschte Erwartungen (z.B. an Geburtstagen, Festtagen, Feiern),
– Niederlagen bei Spiel und Sport,
– Abschied und Trennung von Freunden, Partnern, Eltern,
– Änderungen des sozialen Status (Ende einer Ausbildung; Heirat; Mutter- bzw. Vaterschaft; Auszug der Kinder aus dem Haus; Umzug in ein Altersheim),
– nicht erreichte Berufsziele, Ausscheiden aus dem Berufsleben, Arbeitslosigkeit,
– Verlassen des Heimatortes oder –landes,
– Verlust von Wertgegenständen und Besitz (z.B. bei Überschwemmungen),
– krankhafte und als peinlich erlebte körperliche Veränderungen (z.B. frühzeitiger Zahn- oder Haarausfall),
– schwere körperliche Erkrankungen (z.B. Querschnittslähmung nach einem Unfall, Verlust von Körperteilen),
– Verlust einer nahestehenden, geliebten Person (durch Trennung, Tod),
– Belastende Ereignisse wie Fehlgeburten, Abtreibungen, Weggabe eines Kindes zur Adoption oder Pflege.
Treten mehrere Auslöser gleichzeitig auf, verstärkt sich im allgemeinen die depressive Reaktion (z.B. Verlust der Freundin, des Arbeitsplatzes und der eigenen Wohnung).
Manche Auslöser depressiver Reaktionen können die bisherigen persönlichen, beruflichen und/oder sozialen Lebensgewohnheiten eines Menschen oder von Menschengruppen in Frage stellen. Selbstverständlich erscheinende Alltagsroutinen werden mit einem Male sinnlos, wenn der Partner plötzlich stirbt. Menschen können sich in ihrem Selbstbild und ihrer Selbstachtung abgewertet und bedroht fühlen, wenn sie plötzlich arbeitslos werden. Bei einer schweren Krankheit können Gedanken und Gefühle kommen auf wie z.B.: Jetzt bin ich nichts mehr wert. Ich bin körperlich behindert. Beruflich stehe ich vor dem Nichts. Gesellschaftlich bin ich nur noch eine Randfigurein. Es kann zu einem erheblichen Gefühl der Verunsicherung und der Hilflosigkeit kommen, wenn man sein Land fluchtartig verlassen muss. Das vormals Sichere ist ins Wanken geraten, nichts ist mehr richtig verlässlich.
Wie die obige Auflistung auch zeigt, können aber sogar im Grunde freudige Ereignisse (Bestehen eines Examens, Geburt eines Kindes) zumindest für eine kurze Zeit depressive Verstimmungen hervorrufen. Alles war auf diesen Zeitpunkt hin orientiert, darüber hinaus wurde nicht weitergeplant. Nun kann sich ein Gefühl von Leere breit machen, das auch mit Angst vor der weiteren Zukunft einhergeht. Was kommt jetzt? Wie geht es weiter? Wofür lohnt es nun, sich anzustrengen? Was sind die neuen Ziele? Das Neue, auch wenn es noch so erfreulich erscheint, verlangt auch immer einen Abschied vom Alten. Deshalb können Menschen manchmal ihr neu gewonnenes Glück gar nicht erhalten und stellen unbewusst den alten Zustand wieder her.
Reaktion auf Verluste
Gibt es etwas Gemeinsames an diesen Auslösern für depressive Reaktionen? Wie es scheint, haben diese auslösenden Situationen viel mit Verlust, Verlieren, Aufgeben und Verlassen werden und Verlassen müssen zu tun. Hoffnungen müssen begraben werden, Ansprüche zurückgestellt, Personen und liebgewordene Gewohnheiten aufgegeben werden. Etwas, was uns lieb und teuer ist, wozu wir gute Gefühle entwickelt haben, was wir schätzen und mögen, steht uns nicht mehr zur Verfügung. Es ist weg, vorbei und manchmal für immer. Etwas plakativ könnte man also sagen: Depressionen sind Reaktionen der menschlichen Seele auf Verluste von dem, was wir lieben und für unser Wohlbefinden brauchen.
Sinnvolle Symptome
Symptome einer reaktiven Depression sind also im Grunde nichts Unnormales oder gar per se Krankhaftes. Sie sind Anzeichen einer Krise, durch die ein Mensch hindurch muss, um sich vom Verlorenen zu verabschieden, sich in seinen Gefühlen neu zu orientieren und um am Ende des Prozesses seelisch so gesund wie möglich weiterleben zu können. Im Gegenteil, es ist sogar ein ungutes Zeichen
– beim Tod einer geliebten Person nicht heftig zu weinen,
– sich nach einer Trennung von einem Partner sofort in eine neue Beziehung zu stürzen,
– das Verlassen der eigenen Heimat nicht zu betrauern,
– bei Statusverlusten keine Anzeichen von seelischem Schmerz zu zeigen,
– körperlichen Erkrankungen gleichgültig zu beobachten,
– nach einer Niederlage in einem Wettbewerb seine Enttäuschung nicht zu zeigen,
– bei Enttäuschungen so zu tun als hätte man sich gar nichts erwartet.
Selbstverständlich werden die Reaktionen auf Verluste unterschiedlich ausfallen je nach Situation, Alter und sozialer Unterstützung. Keine Gefühle zu zeigen, obwohl der Anlass dafür zweifelsfrei vorhanden ist, ist ungesund.
“Dies bedeutet, das Erleben der Depression nicht als Krankheit oder Funktionsstörung zu untersuchen, sondern als gesunde Reaktion auf verschiedene Arten von Verlusten … Folglich kann man die Depression nicht als Zeitverschwendung ansehen, sondern muss in ihr einen wertvollen Prozess erkennen, in dessen Verlauf wir über die Bedingungen unseres Daseins nachdenken, unsere Werte und unser Ich einer nochmaligen Prüfung unterziehen und den Weg zu einem erneuten Zielbewusstsein und Sinngefühl finden. Der Wegfall dieser Phasen wäre für uns menschlich gesehen ein Verlust.” (Hazleton, 1995, S. 15)
Wie schnell eine depressive Verstimmung überwunden werden kann, hängt von der jeweiligen Ursache ab. Den Tod eines geliebten Menschen zu akzeptieren oder eine unheilbare Krankheit als gegeben anzunehmen, dauert wesentlich länger als eine Niederlage in einem sportlichen Wettkampf zu vergessen oder den Verlust einer Brieftasche zu verschmerzen.
Durchlebte Depressionskrisen können sogar zur seelischen Stärkung eines Menschen beitragen. Sie helfen ihm, sich aus Bindungen und emotionalen Fixierungen zu lösen, stärken das Selbstbewusstsein (“Ich habe so etwas Schweres durchgestanden!”), lassen eine größere Unabhängigkeit gewinnen, öffnen Möglichkeiten für neue und andere Aktivitäten und schaffen den Raum für eine neue Bereitschaft zu gefühlsmäßigen Bindungen.
Gesunde Trauer
Der wichtigste seelische Vorgang, Abschied von einem alten Zustand zu nehmen, ist die Trauer bzw. ist der Trauerprozess. Gesunde Trauer ist der Beginn und die Chance, sich neu zu orientieren und sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Trauer bedeutet Abschiednehmen. Trauer heißt Anerkennen des Endgültigen. Was vorbei ist, ist nicht wieder zu bringen. Trauer ist Loslassen und Rückzug. Trauer ist das Zulassen von Tränen, Schmerzen, Wut und Enttäuschung. Durch gesunde Trauer können auch Schuld- und Schamgefühle verarbeitet werden.
Chronische Depressionen
Dauerhafte depressive Verstimmung.- Klingt eine depressive Reaktion nicht nach etwa einem Monat in ihrer Heftigkeit ab, so kann der heilende Trauerprozess offenbar nicht in Gang kommen und er bleibt stecken (zu den möglichen Ursachen und Bedingungen siehe Kapitel 4). Es kommt dann allmählich zu einer dauerhaften („chronischen“) depressiven Verstimmung. Oft entwickeln sich daraus weitere Symptome.
„Oft fällt den Betroffenen selbst vor allem ihre Interesselosigkeit und selbstkritische Einstellung auf, mitunter empfinden sie sich in ihrem Selbstbild als langweilig und unfähig. Diese Symptome sind so sehr zu einem Teil des alltäglichen Lebens geworden („Ich war schon immer so“, „So bin ich eben“), dass sie oft erst auf direktes Befragen berichtet werden.“ (a.a.O., S. 407)
Andere häufige Symptome sind:
1. Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
2. Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
3. Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit (sogar bei leichten depressiven Episoden)
4. Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
5. Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzung oder Suizidhandlungen
6. Schlafstörungen
7. Verminderter Appetit
Allgemein kann man sagen: Bei der sog. neurotischen Form der depressiven Störung ist der bereffende Mensch bemüht, trotz seiner Symptome eine selbständige Lebensführung aufrecht zu erhalten. Er kann sich im praktischen Leben trotz allem noch zurechtzufinden, wünscht sich eine glückliche Partnerschaft, einen zufriedenstellenden Arbeitsplatz, eine gute Wohnung etc. . Manche Menschen scheinen sogar nach außen hin als sehr erfolgreich und im Leben stehend. In ihrer Seele aber sind sie zeitlebens unglücklich.
Latente Depression
Manchen Menschen sieht man ihre depressiven Symptome auf den ersten Blick an. Andere dagegen leiden zwar innerlich auch, wirken nach außen jedoch oft als fröhlich, aktiv und lustig. Man spricht hier von einer „latenten“, d.h. verdeckten Depressivität. Depressivität kann sich hinter Süchten verstecken (Arbeitssucht, Alkoholismus …), sie kann durch die Suche nach immer neuen Partner verdeckt sein.
Major Depression
Vollbild einer Depression.- Im Unterschied zur depressiven Neurose stellt das Vollbild einer Depression einen wahnhaften und daher psychotischen Zustand dar. D.h. der betreffende Mensch sieht sich nicht mehr in der Lage, an seiner momentanen inneren Situation etwas Entscheidendes zu verändern und Abstand von seinen negativen Gedanken und Gefühlen zu gewinnen. Oft ist er in diesem Zustand zu einer eigenständigen Lebensführung nicht mehr im Stande. Sein Wahrnehmen, Fühlen und Denken steht nicht mehr im Einklang mit dem, was aktuell um ihn herum geschieht. Er ist verwirrt und orientierungslos. Selbstmordgedanken kommen häufig hoch. Ebenso werden oft schwere Schuldvorwürfe an die eigene Person gerichtet.
„Das Kraftwerk des Ichs, die Seele, arbeitet nicht mehr wie gewohnt. Alle von ihr einst dominierten Funktionen werden nicht mehr mit der nötigen Zuversicht gespeist, das Leben erfüllt sich nicht mehr selbstverständlich, Inhalte wie Zukunft, Planung, Lebensziele und Glück haben keine Wirkung mehr, werden nicht mehr von der inneren Stimme angeregt. Alles Tun, alles Denken unterliegt jetzt dem Einfluss von Niedergeschlagenheit, Zweifel und Angst – Lebensangst. Die Seele schafft keine Rückkoppelung mehr zu den Erfahrungen der Vergangenheit, vor allem den glücklichen. Alle Reserven sind verbraucht und es lassen sich auch keine neuen gerieren, weil das Leben in all seinen Facetten sinnlos geworden zu sein scheint.“ (Reiners, 2002, S. 16f.)
Manische Episode
Major Depressionen können als klinisches Zustandsbild auch im Wechsel mit einer Manie (nähere Erläuterung s.u.) auftreten (sog. bipolare Störung oder Zyklothymia), depressive und manische Episoden wechseln sich dann in einem geringen Prozentsatz der Fälle (ca. 20 %) unmittelbar ab.
In der manischen Phase fallen alle Hemmungen, Bedenklichkeiten und Verzichtshaltungen plötzlich weg. Der betreffende Mensch ist unangemessen heiter, voller Optimismus und verschwenderisch. In der depressiven Phase nimmt er alles zurück, fällt in Selbstanklage, Mutlosigkeit und Apathie. Da Manien nach meiner Erkenntnis andere Ursachen wie Depressionen haben, werde ich an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehen. Ich habe einiges zu den Ursachen von Manien in meinem Buch „Verwirrte Seelen“ geschrieben (Ruppert, 2002).
Epidemiologische Befunde
Erkrankungsrisiko
Menschen, die an Depressionen leiden, sind keine Seltenheit. Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männern. “Die Wahrscheinlichkeit an einer Depression zu erkranken ist bei einem Lebenszeitrisiko von 12-16% für Männer und 20-26% für Frauen als hoch einzuschätzen. Verschiedene Prävalenzschätzungen stimmen darin überein, dass 2-3% der Männer und 4-7% der Frauen aktuell an einer unipolaren ernsthaften Depression leiden. … Der Median des Ersterkrankungsalters an unipolaren Depressionen liegt zwischen 20 und 40 Jahren, bei einer beträchtlichen Streuung von der Kindheit bis ins hohe Alter. Neuere epidemiologische Arbeiten zeigen eine deutliche Zunahme depressiver Erkrankungen in allen untersuchten Ländern und über die Alterskohorten. Insbesondere die jüngeren Jahrgänge (18 bis 29 Jahre) weisen ein deutlich gesteigertes Erkrankungsrisiko auf.” (Hautzinger, 1994, S. 66).
Klinische Prognose
Bei etwa der Hälfte klinisch auffälliger Personen (50-60%) bessert sich der Zustand ihrer Depressivität bis hin zur Arbeitsfähigkeit. Bei 10-20% tritt eine Chronifizierung ein, die oft mit einer körperlichen Erkrankung verknüpft ist: Asthma, Allergien, Magengeschwür, Herzinfarkt, Diabetes. Durch depressive Zustände wird das Immunsystem geschwächt und die Krankheitsanfälligkeit damit erhöht. Ca. 15% depressiver Menschen begehen Suizid.
Einige Befunde aus empirischen Studien
Verluste und problematische Lebensverhältnisse
Verlusterlebnisse gehen der Entwicklung einer depressiven Störung häufig voraus. In einer klassischen Studie von Brown, Harris und Copeland (1977) hatten 61% der depressiven Frauen in den sechs Wochen vor Beginn der Depression ein schwerwiegendes Verlusterlebnis (v.a. schwere Krankheit, Tod geliebter Personen), in der Kontrollgruppe gesunder Frauen waren dies nur 20%. 47% der depressiven Frauen hatten gegenüber nur 17% der nicht-depressiven Frauen mindestens zwei Jahre lang mit einer oder mehreren sozialen Schwierigkeiten zu kämpfen: Eheprobleme, Probleme in der Versorgung und Erziehung der Kinder, Finanz- und Wohnprobleme. Verlusterlebnisse und länger dauernde Schwierigkeiten korrelierten in dieser Studie bei ca. 20% der untersuchten Frauen mit der Entwicklung einer Depression.
Einfluß von Partnerschaft
Der Faktor “Partnerschaft” scheint eine wichtige Bedingungsvariable für das Auftreten von Depressionen zu sein. Getrennt Lebende, Geschiedene und Menschen ohne vertraute Person gelten nach Gove, Hughes und Briggs (1983) als besonders anfällig, psychische Störungen zu entwickeln. Die “protektive Funktion des Verheiratetseins” (Wahl, 1994, S.31) gilt jedoch nur für Ehen, die als befriedigend erlebt werden: unglücklich verheiratete Männer und Frauen erlebten sich nach Renne (1971) depressiver als eine Vergleichsgruppe Getrenntlebender bzw. Geschiedener.
Eheprobleme (Spannungen, Abhängigkeit, verarmte Kommunikation, Mangel an Zuneigung) und das von den befragten Personen selbst eingeschätzte Maß an ehelichen Belastungen korrelieren nach den bei Wahl (a.a.O., S. 31f.) zitierten Untersuchungen positiv mit depressiven Zustandsbildern. Umgekehrt kommt der Qualität ehelicher Unterstützung eine hohe präventive Bedeutung zu, wenn belastende Lebensereignisse zu bewältigen sind: je besser die eheliche Unterstützung, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass die betroffenen Personen ein depressives Zustandsbild entwickeln.
Aus korrelativen Studien können keine Ursachen für psychische Erkrankungen abgeleitet werden. Es kann hier nicht zwischen Ursachen und Bedingungen unterschieden werden. Daher ist es abhängig von theoretischen Annahmen, welche Gründe für die Entstehung von Depressionen angenommen werden.
Quelle: Prof. Dr. Ruppert, München